Vorlesung:
Grundlegende Fertigkeiten für die wissenschaftliche Arbeit

von Arnd Baumann und Stephan Frings

I. Irrtum, Fälschung und Betrug in der Wissenschaft    (INHALT)
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Belastung durch Konkurrenz und soziale Faktoren

Der Mythos vom logischen Gang der Wissenschaft
 
Lehrbücher und Forschungspublikationen vermitteln den Eindruck, daß der Fortgang der wissenschaftlichen Arbeit logisch und geradlinig ist; daß der Weg von der Aufstellung neuer Hypothese durch induktive Logik über die experimentelle Überprüfung der Hypothesen zwangsläufig und folgerichtig zu allgemeinen Grundsätzen über die Natur (zu Naturgesetzen) führt. Eine solche idealisierte Darstellung der Forschungsarbeit läßt Faktoren wie persönliche Geschichte und Motivation des einzelnen Forschers sowie sein Arbeitsumfeld außer acht. Zudem werden Umwege, falsche Hypothesen und fehlgeschlagene Experimente nicht berücksichtigt, denn für den Erkenntnisgewinn sind sie unerheblich.
 
Dadurch kann der Eindruck entstehen, daß das logische Konzept der wissenschaftlichen Arbeit den Forscher vor Irrtum und Selbstbetrug schützt - eine Illusion, die zu einer gefährlichen Überschätzung der eigenen Objektivität führen kann. Tatsächlich sind Wissenschaftler von Beginn ihrer Karriere an mit Irrtum und Selbstbetrugs konfrontiert - ein Problem, daß dem wirklichen (nicht ideologisierten) Wissenschaftsalltag zwangsläufig zu eigen ist. Neben allgemein menschlichen Eigenschaften (Ehrgeiz, Wunsch nach Anerkennung, Angst vor Blamage, etc) können einige Aspekte des Wissenschaftsbetriebes besonders leicht zu Irrtum und Selbsbetrug führen, ja eventuell sogar zur Fälschung verleiten. Dazu gehören Konkurrenzdruck und soziale Faktoren in der Arbeitsgruppe.
 
Konkurrenzdruck
 
"Die biomedizinische Forschung ist das erste total globalisierte Fach der Wissenschaft. Dort macht der Russe in Wladiwostock genau das gleiche wie der Amerikaner in San Diego und der Deutsche in München, und diese Arbeitsgruppen sind sich in einem Abstand von maximal drei Wochen auf den Fersen. Einen solchen Konkurrenzdruck hat es in der Wissenschaft zuvor niemals gegeben."       DFG-Präsident Wolfgang Frühwald auf einer Pressekonferenz am 16.12.1997 in Bonn.
 
Aus der internationalen Konkurrenz in allen wichtigen Forschungsgebieten entsteht für den einzelnen Wissenschaftler ein erheblicher Zeitdruck, der Zwang, seine Experimente zügig durchzuführen und zu veröffentlichen. Auch die immer schärfer werdende Konkurrenz um Forschungsmittel treibt zu Eile: Von den etwa 1500 Förderanträgen, die die DFG monatlich bearbeitet, können zur Zeit nur etwa 40% bewilligt werden. Der Zeitdruck kann alle Mitarbeiter einer Forschergruppe stark belasten, und ein soziales Klima schaffen, in dem Irrtum, Selbstbetrug und Täuschung entstehen können.
 
Soziale Faktoren
 
Schöne Daten für den Chef: Von den bisher aufgeklärten Betrugsfällen in der Wissenschaft folgen viele dem gleichen Schema: Die Lieblingstheorie eines Chefs wurde von technischen Assistenten, Diplomanden, Doktoranden oder Postdocs mit gefälschten Daten gestützt und zur Veröffentlichung gebracht. Aber auch ehrliche und sorgfältig arbeitende Wissenchaftler können zu Irrtum und Selbstbetrug verleitet werden, wenn sie die Erwartungshaltung ihrer Vorgesetzten übernehmen. Gerade Berufsanfänger können nicht einfach voraussetzen, daß sie von Vorgesetzten in ihren Bemühungen unterstützt werden, Irrtum und Selbstbetrug zu vermeiden. Gruppenleiter, die sich fast nur noch mit Hypothesen und kaum noch mit der Interpretation von Rohdaten befassen, haben sich in vielen Betrugsfällen als unzulängliche Kontrollinstanz erwiesen.
Stellen, Stellen, Stellen... Im deutschen Wissenschaftssystem verbringen Forscher einen großen Teil ihres Lebens auf befristeten Stellen. Der Sinn dieses Verfahrens ist, einen konstanten Leistungsdruck aufrechtzuerhalten und so die Produktivität der Wissenschaftler zu steigern. Wichtigster Leistungsnachweis sind Anzahl und Qualität von Publikationen sowie die Einwerbung von Forschungsmitteln. Leistungsdruck - und der damit verbundene Zeitdruck - können jedoch die unbedingt notwendige Skepsis gegnüber den eigenen Hypothesen und Folgerungen abmildern. Es kann vorkommen, daß man "fünfe gerade sein läßt", weil man dringend Publikationen braucht.
Karriere: Im deutschen Universitätssystem sind die Aufstiegschancen junger Wissenschaftler sehr beschränkt, denn es gibt nur wenige Dauerstellen, die eine vernünftige Lebensplanung ermöglichen. Die meisten Forscher stehen nach wenigen Jahren vor der Entscheidung, sich um eine Professur zu bemühen (ca. 100 Bewerber pro Ausschreibung von Bioprofessuren) oder die akademische Laufbahn zu verlassen. Die Unsicherheit über die berufliche Entwicklung, verbunden mit dem beständigen Erfolgsdruck, ist ein Nährboden für Irrtum, Selbstbetrug und Täuschung.
 
Fazit: der wissenschaftliche Alltag verläuft für die meisten Forscher keineswegs unter optimalen Bedingungen. Es ist wichtig, Einflüsse und Bedingungen zu erkennen, die zu Irrtum führen können, um auch unter schwierigen Bedingungen gute Forschung zu betreiben.
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Aus: Spektrum der Wissenschaft, 10/2000